Sonntag, 11. November 2007
Protagoras: Sein besteht im Erscheinen
Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras ist uns in zwei Quellen überliefert, einmal bei Sextus Empirikus und einmal bei Platon im Theaitet. Wenn Platon dort Sokrates den Satz zuerst deuten lässt, entspricht dies der naheliegenden Interpretation, dass dasselbe Ding dem einen Betrachter so erscheint, dem anderen anders: derselbe Wind erscheint einmal kalt, ein andermal warm. Wenn man den Satz allerdings näher betrachtet, scheint es unwahrscheinlich, dass Protagoras ihn so gemeint hat. Es ist anzunehmen, dass er nicht unterschieden hat zwischen den Dingen selbst und unseren Repräsentationen der Dinge. Seine Auffassung war vielmehr, dass die Dinge erst im Erscheinen ihr Sein erlangen und dann so bestimmt sind wie sie wahrgenommen werden. Das heißt, dass die Dinge der Erscheinung nicht als Substrat zugrunde liegen. Leugnet man jedoch dieses, ist es auch nicht möglich, klar zwischen Gegenständen, Qualitäten und Situationen zu unterscheiden. Was zur Erscheinung kommt, ist eine bestimmte Beschaffenheit, nicht aber eine Eigenschaft, die von einem zugrunde liegenden Gegenstand ausgesagt wird, denn das hieße ja, dass der Gegenstand an sich noch etwas anderes wäre als die gerade von ihm ausgesagte Eigenschaft. Ist der ontologische Unterschied zwischen Substanz und Akzidens einmal etabliert, ist es gar nicht mehr so leicht, ihn wegzudenken. Daher kostet es Platon im Theaitet auch erhebliche Anstrengungen, den ersten so einleuchtenden Vorschlag des Sokrates zu modifizieren, um Protagoras Rechnung tragen zu können. Wie selbstverständlich wir auch heute diesen Unterschied hinnehmen und davon ausgehen, dass eine Erscheinung etwas, das erscheint, voraussetzt, sieht man etwa an solchen Phänomenen wie Nachbildern, die offenbar keinem Gegenstand angehören und daher als Illusion klassifiziert werden.
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