Montag, 10. Dezember 2007

Literatur zur Metaphysik des Aristoteles

1. Textausgaben:

Szlezák, T. A., Aristoteles, Metaphysik, übers. u. eingeleitet, Berlin 2003.

Wolf, U. (Hrsg.), Aristoteles, Metaphysik, übers. von H. Bonitz, Hamburg 1994.

2. Sekundärliteratur:

Barnes, J., “Metaphysics”, in: ders. (Hrsg.), The Cambridge Companion to Aristotle, Cambridge 1995, S. 66-108. [Guter, basaler Überblicksartikel über das aristotelische Projekt in der Metaphysik.]

Buchheim, T., Aristoteles, Freiburg 1999, insbesondere Kap. III.2, S. 78-99. [Eine für Anfänger geeignete, knappe und gut verständliche Einführung in die aristotelische Philosophie im Allgemeinen. Mit einigen ausgewählten Tipps zu Textausgaben und Literatur zum Weiterlesen.]

Ferejohn, M.T., “Aristotle on Focal Meaning and the Unity of Science”, in: Phronesis 25 (1980), S. 117-128. [Pflichtlektüre. PDF]

Grice, H. P., 1988. “Aristotle on the Multiplicity of Being”, in: Pacific Philosophical Quarterly 69 (1988), S. 175-200.

Hintikka, K.J., „Aristotle and the Ambiguity of Ambiguity“, in: ders., Time and Necessity, Kap.1, Oxford 1973.

Irwin, T. H., “Homonymy in Aristotle”, in: Review of Metaphysics 34 (1981), S. 523-544. [zu Aristoteles‘ Äußerungen über Homonymie v.a. in den logischen Schriften]

Kung, Joan, “Aristotle on ‘Being is Said in Many Ways’ ”, in: History of Philosophy Quarterly 3 (1986), S. 3-18.

Owen, G.E.L. , „Logic and Metaphysics in Some Earlier Works of Aristotle“, in: I. Düring, G.E.L. Owen (Hrsg.), Aristotle and Plato in the Mid-Fourth Century, Göteborg 1960. [Wichtiger Aufsatz, der den Begriff ‚focal meaning‘ prägt. Es wird ausgehend von Passagen aus der Eudemischen Ethik eine Entwicklung im Denken des Aristoteles aufgezeigt, die in seinen Aussagen in der Nikomachischen Ethik I,6 und der Metaphysik IV,2 gipfelt. In dieser Entwicklung spiegelt sich Aristoteles‘ Haltung zur Platonischen Philosophie.]

Owen, G. E. L., “Aristotle on the Snares of Ontology”, in: R. Bambrough (Hrsg.), New Essays on Plato and Aristotle, London (1965), S. 69-95.

Pena, Lorenzo, “The Coexistence of Contradictory Properties in the Same Subject According to Aristotle”, in: Apeiron 32 (1999), S. 203-229.

Sonntag, 9. Dezember 2007

Phaidon: Das Argument der Unsterblichkeit der Seele

Mit diesen begrifflichen Unterscheidungen lässt sich nun das letzte Argument der Unsterblichkeit der Seele im Phaidon leicht nachvollziehen. Es wird angenommen, dass Leben eine essentielle Eigenschaft der Seele ist. Die Seele ist nun Ursache für das Lebendigsein des Körpers. Verlässt sie diesen, stirbt der Körper, die Seele bleibt jedoch am Leben, da nichts eine essentielle Eigenschaft verlieren kann ohne selbst dabei zugrunde zu gehen. Damit ist gezeigt, dass die Seele unsterblich ist. Der letzte Schritt des Arguments bestünde darin zu zeigen, dass die Seele nicht zugrunde geht, also nicht nur unsterblich, sondern auch unvergänglich ist. Dies wird allerdings nicht mehr bewiesen, sondern lediglich als plausibel angenommen: „Denn es könnte sich kaum irgend etwas dem Untergang entziehen, wenn auch das Unsterbliche und immer Seiende den Untergang annähme. [...] die Idee des Lebens selbst wird wohl, wenn überhaupt etwas unsterblich ist, von jedem eingestanden werden, das es niemals untergehe.“ (106d) Somit bleibt das Argument letztlich unvollendet.

Phaidon: Von Formen als Ursachen zu Dingen als Ursachen

Was die Formen als Ursachen auszeichnet, ist, dass sie anders als die wahrnehmbaren Dinge keine gegensätzlichen oder wechselnden Eigenschaften haben. Somit sind sie im höchsten Sinne erkennbar. Die wahrnehmbaren Dinge können an gegensätzlichen Formen teilhaben.Wenn etwa ein warmer Körper kalt wird, flieht das Warme in ihm. Die Eigenschaft des Warmen in ihm kann aber genau wie die Form des Warmen niemals kalt werden. Nun gibt es aber bestimmte Eigenschaften, die auch ein Ding nicht verlieren kann, ohne selbst zugrunde zu gehen. Diese Eigenschaften heißen essentielle oder definierende Eigenschaften. Feuer kann niemals kalt werden. Ein Ding mit der essentiellen Eigenschaft kann nun auch in etwas anderem bewirken, dass dieses die Eigenschaft F annimmt (z.B.: Das Feuer bewirkt, dass der Stein warm wird).

Die zweitbeste Fahrt im Phaidon: Formen als Ursachen

Da wir meist nicht erkennen können, was das Beste für etwas ist (denn die Erkenntnis des Guten ist die höchste Erkenntnis überhaupt und allenfalls nach jahrzehntelanger philosophischer Übung erreichbar), müssen wir mit einer anderen Art von Erklärung vorlieb nehmen. Nun wird auch präzisiert, was eigentlich genau erklärt werden soll: Die Erklärung soll angeben, wodurch etwas dieses Bestimmte ist. Sokrates kommt dazu auf das Prinzip, dass Gleiches durch Gleiches verursacht wird, zurück, und wählt die tautologisch klingende Formulierung, dass etwas F ist aufgrund der F-heit (Vermöge des Schönen werden alle Dinge schön.). Dieses begründet er nicht weiter, sondern hält es für das Sicherste und baut auf diesem stärksten Logos das gesamte weitere Argument auf.
Handelte es sich bei der Formulierung des Sokrates wirklich um eine Tautologie, wäre sie zwar absolut sicher, sie würde allerdings kaum als Erklärung geeignet sein, da jede Erklärung doch in irgendeiner Weise informativ sein muss. Der Anschein der Tautologie verliert sich aber sofort, wenn man sich klar macht, dass Sokrates das Schöne und alle anderen Eigenschaften als selbständige Entitäten postuliert. Diesen Gegenständen kann er nun problemlos den Status von Ursachen zuschreiben.

Die Kritik Platons am Ursachebegriff seiner Vorgänger im Phaidon

Platon untersucht verschiedene vorsokratische Theorien daraufhin, was diese als Ursache für etwas anführen. Nachdem er einige ganz verschiedenartige Kandidaten wie Luft, Feuer (Materialursache) oder Fäulnis, das Warme und Kalte (Bewegungsursache) angeführt hat, fokussiert er seine Kritik auf drei Ausschlusskriterien. Danach ist eine Erklärung ist nicht zufriedenstellend, wenn sie eines der drei folgenden Kriterien erfüllt (vgl. 96e-97b sowie die klarere Zusammenfassung in 101a-c):

a) F wird von x und non x verursacht.
Beispiel: Ursache dafür, dass etwas zwei wird, ist einmal Hinzufügung und einmal Spaltung.

b) x verursacht F und non F.
Beispiel:
Der Kopf ist einmal Ursache des größer Seins und einmal des kleiner Seins.
Die Sehnen und Knochen des Sokrates bewirken einmal seinen Verbleib im Gefängnis und einmal seine Flucht.

c) x ist non F und verursacht F.
Beispiel: Der Kopf, der doch selbst klein ist, ist Ursache des Um-einen-Kopf-größer-Seins.

Dieser Kritik liegt das Prinzip zugrunde, dass Gleiches durch Gleiches verursacht wird, bzw. dessen Umkehrung, dass Verschiedenes nicht Ursache von von Verschiedenem sein kann (vgl. Sedley (1998)).

Freitag, 23. November 2007

Literatur zu Platons Sophistes

1. Textausgaben:

Eigler, G. (Hrsg.), Platon, Werke Bd. 6: Theaitetos, Sophistes, Politikos, (übersetzt von Fr. Schleiermacher, griech. Text von L. Robin, L. Méridier), Darmstadt 1974.

2. Sekundärliteratur:

Bostock, D., „Plato on ‚Is not’“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 2 (1984), S. 89-119

Cornford, F. M., Plato’s Theory of Knowledge, London 1935, reprinted 1960.

Frede, M., Prädikation und Existenzaussage, Hypomnemata 18, Göttingen 1967.

Frede, M., „Plato’s Sophist on false statements“, in: R. Kraut (Hrsg.), The Cambridge Companion to Plato, Cambridge 1992, S. 397-424. [Pflichtlektüre. PDF]

Heinaman, R., „Being in the Sophist“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 65 (1983), S. 1-17.

Rijk, L. M. de, Plato’s Sophist. A Philosophical Commentary, Amsterdam 1986.

Wiggins, D., „Sentence Meaning, Negation, and Plato’s Problem of Not Being“, in:
G. Vlastos (Hrsg.), Plato. A Collection of Critical Essays Vol. I: Metaphysics and Epistemology, Garden City NY 1971, S. 268-303.

Demokrit: Eine Ethik für den Einzelnen

Auch wenn man bei Demokrit eine Reihe von Motiven der klassischen Ethik erkennen kann (Sorge um die Seele, Vorherrschaft der Vernunft, Kritik übermäßiger leiblicher Genüsse), ist zu bemerken, dass Demokrit eine strikt individualistische Ethik vertritt. Es geht nicht um das Wohlergehen der Gemeinschaft, sondern um das des Einzelnen. Ebenso geht es nicht um unabhängige, unveränderliche ethische Wahrheiten. Was gut und schlecht ist, ist relativ zum Individuum und dessen physischer Verfassung. Darin gleicht er einerseits Protagoras, der ebenfalls das Maß aller Dinge im Menschen verortet, andererseits unterscheidet er sich doch erheblich von diesem, indem er in der atomaren Struktur, die das ontologische Fundament bildet, doch noch einen unabhängigen Maßstab findet jenseits der jeweiligen Erscheinung (bei Protagoras macht es streng genommen gar keinen Sinn, von einer Ontologie zu reden). Aber das Maß bleibt auch bei Demokrit die (physische) Beschaffenheit des einzelnen Individuums, die ihm eigen ist und daher keine strikt generalistischen moralischen Propositionen begründen kann.

Demokrit: Die Atomstruktur der Seele

In der Interpretation von Gregory Vlastos ist Wohlgemutheit nur das, was an der Oberfläche erscheint und was wir unmittelbar merken. Ihr zugrunde liegt jedoch, was Demokrit euestó (von eu – gut, und estó – dorisch: sein) nennt: ein wohlgeordnetes Verhältnis der Seelenatome untereinander. Demokrit hat in seinen naturphilosophischen Schriften die Auffassung vertreten, dass die Seele ebenso aus Atomen besteht wie alle anderen physikalischen Körper auch. Die Atome der Seele sind rund und besonders beweglich, wodurch die Seele einerseits besonders gut Einwirkungen von außen aufnehmen kann (z.B. wahrnehmen) und als Beweglichstes den Rest des Körpers bewegen, andererseits ist die Gefahr besonders groß, dass die Atome in Unordnung geraten. Die „großen Pendelausschläge“ im Frg. 191 beziehen sich möglicherweise nicht nur auf Wechsel der Launen, sondern auf übermäßige Atombewegung. Es ist aufgrund der Beweglichkeit der Seelenatome eine große Kunst, das richtige Maß zu halten. Das ist der Fall, wenn sich die Atome in ihrem natürlichen Schwingungszustand befinden (Vlastos: „dynamic equilibrium“).
Vlastos zeigt die weitgehende Parallelisierung des euestó der Seele mit der Gesundheit des Körpers auf. Daher mag es verwundern, dass im Falle der Seele ihr Wohlergehen nicht durch Gymnastik sichergestellt wird, sondern durch Vernunft, und dass die zuständige Wissenschaft nicht die Medizin (heute etwa die Psychiatrie), sondern die Ethik ist. Mit der Zuweisung der Vernunft an die Seele und der Bestimmung der Seele als dasjenige, das den Körper bewegt und steuert, etabliert Demokrit eine Vorherrschaft der Vernunft und eine gewisse Unabhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt. Der Mensch kann durch Wahl der richtigen Lebensweise seine Seele und seinen Körper erhalten und pflegen.

Demokrit über das gute Leben

Wohlgemutheit (euthymia - von eu – gut, und thumos – Mut, Gefühl; bei Platon: „eifernder“ Seelenteil) zeichnet nach Demokrit das gute Leben aus. Diesen Zustand der Seele sollte jedes Individuum anstreben und erhalten. Um Ausgewogenheit zu erreichen muss das Individuum sein Verhältnis zur Umwelt (also die eigenen Ziele, die Bewertung der eigenen Leistungen sowie der Leistungen anderer) richtig bestimmen. Setzt es z.B. die eigenen Ziele zu hoch, ist das Scheitern vorprogrammiert. Aber auch ein äußerst lustvoller Zustand ist selten von Dauer. So ist nach Demokrit das Ebenmaß nicht nur dem Schmerz, sondern auch großer Lust vorzuziehen. Es liegt in der Macht des Einzelnen, ein zufriedenes Leben zu leben, denn was immer die äußeren Umstände sein mögen, kann er doch seine Erwartungen damit abgleichen. Demokrit wendet sich damit ebenso wir Protagoras entschieden gegen einen Schicksalsglauben, dessen Spuren in der Lyrik noch gut erkennbar sind. In dieser Hinsicht nimmt Demokrit einiges vorweg, was die stoische Ethik kennzeichnet.

Sonntag, 11. November 2007

Literatur zu Platons Phaidon

1. Textausgaben:

Ebert, Th., Platon: Phaidon. Übersetzung und Kommentar, in: E. Heitsch, C. W. Müller (Hrsg.) Platon, Werke, (Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz), Göttingen 2004.

Eigler, G. (Hrsg.), Platon, Werke Bd. 3: Phaidon, Symposion, Kratylos, (übersetzt von Fr. Schleiermacher, griech. Text von L. Robin, L. Méridier), Darmstadt 1974. [Die klassische Platon-Übersetzung aus dem 19. Jh. von Friedrich Schleiermacher.]

2. Sekundärliteratur:

Eck, Job van, „Skopein en logois: On Phaedo 99d-103c“, in: Ancient Philosophy 14 (1994), S. 21-40. [Der Gegner von Rowe in einer längeren Debatte.]

Frede, D., Platons ‚Phaidon‘. Der Traum von der Unsterblichkeit der Seele, Darmstadt 1999. [Eine gute Einführung.]

Frede, M., “The Original Notion of a Cause”, in: M. Schofield u.a. (Hrsg.), Doubt and Dogmatism, Oxford 1980, S. 217-249.

Sedley, D., „Platonic Causes“, in: Phronesis 43 (1998), S. 114-132. [Erstaunlich gut verständlicher Artikel, sehr geeignet als Einführung in Platons Theorie der Kausalität. Ist jedoch eher an systematischen Fragen interessiert und geht nicht genauer auf einzelne Textstellen ein. Außerdem betrachtet er eine ganze Reihe von Dialogen, nicht nur den Phaidon. Nach der Erläuterung der platonischen These, dass Gleiches durch Gleiches verursacht wird, geht Sedley im zweiten Abschnitt auf Formursachen ein und betrachtet zum Schluss das Argument vom Dritten Menschen aus dem Parmenides. Pflichtlektüre. PDF]

Rowe, Cristopher, „Explanation in Phaedo 99 C 6-102 A 8“, in: Oxford Studies in Ancient Philosophy 11 (1993), S. 49-69. [Zur weiteren Auseinandersetzung zwischen Rowe und van Eck vgl. Oxford Studies in Ancient Philosophy 14 (1996), S. 211-240].

Vlastos, G., „Reasons and Causes in the Phaedo“, in: ders. (Hrsg.), Plato. A Collection of Critical Essays Vol. I: Metaphysics and Epistemology, Garden City NY 1971, S. 132-166.

Protagoras: Es gibt keinen Widerspruch

Wenn man einmal akzeptiert hat, dass es keinen prinzipiellen Unterschied gibt zwischen Sein, Vorstellen und Rede (oder allgemeiner zwischen Welt, Geist und Sprache), sondern alles in der Erscheinung zusammenfällt, muss man auch denken, dass zwei Erscheinungen gar nicht identisch sein können, sondern allenfalls gleichartig. Man kann sich über Erscheinungen nicht streiten, denn um zu streiten muss man sich doch auf dasselbe beziehen. Diese bestimmte Erscheinung, die ich habe, kann aber gar nicht dieselbe sein, die du hast. Wenn wir beide Wind sagen, reden wir daher nicht über dieselbe Sache.

Protagoras: Die Inflation der Wahrheit

Indem alles, was ist, als Erscheinung, die wir wahrnehmen, existiert, haben wir Zugang zur gesamten Realität und sind immer schon im Besitz der ganzen Wahrheit. Diese Konsequenz des Homo-Mensura-Satzes könnte Protagoras dazu veranlasst haben, ihn an den Anfang seiner Schrift mit dem Titel „Wahrheit“ (nicht erhalten) zu setzen. Hier kommt er, indem er die gegenteilige Voraussetzung wie Parmenides trifft, dass nämlich das Sein genau das ist, was wir sinnlich erfassen, auch zur gegenteiligen Konsequenz, dass wir nämlich die Wahrheit schon besitzen, wogegen Parmenides behauptet, dass sie den Sterblichen dadurch, dass diese sich an die Wahrnehmung halten, ganz entzogen ist.

Protagoras: Sein besteht im Erscheinen

Der Homo-Mensura-Satz des Protagoras ist uns in zwei Quellen überliefert, einmal bei Sextus Empirikus und einmal bei Platon im Theaitet. Wenn Platon dort Sokrates den Satz zuerst deuten lässt, entspricht dies der naheliegenden Interpretation, dass dasselbe Ding dem einen Betrachter so erscheint, dem anderen anders: derselbe Wind erscheint einmal kalt, ein andermal warm. Wenn man den Satz allerdings näher betrachtet, scheint es unwahrscheinlich, dass Protagoras ihn so gemeint hat. Es ist anzunehmen, dass er nicht unterschieden hat zwischen den Dingen selbst und unseren Repräsentationen der Dinge. Seine Auffassung war vielmehr, dass die Dinge erst im Erscheinen ihr Sein erlangen und dann so bestimmt sind wie sie wahrgenommen werden. Das heißt, dass die Dinge der Erscheinung nicht als Substrat zugrunde liegen. Leugnet man jedoch dieses, ist es auch nicht möglich, klar zwischen Gegenständen, Qualitäten und Situationen zu unterscheiden. Was zur Erscheinung kommt, ist eine bestimmte Beschaffenheit, nicht aber eine Eigenschaft, die von einem zugrunde liegenden Gegenstand ausgesagt wird, denn das hieße ja, dass der Gegenstand an sich noch etwas anderes wäre als die gerade von ihm ausgesagte Eigenschaft. Ist der ontologische Unterschied zwischen Substanz und Akzidens einmal etabliert, ist es gar nicht mehr so leicht, ihn wegzudenken. Daher kostet es Platon im Theaitet auch erhebliche Anstrengungen, den ersten so einleuchtenden Vorschlag des Sokrates zu modifizieren, um Protagoras Rechnung tragen zu können. Wie selbstverständlich wir auch heute diesen Unterschied hinnehmen und davon ausgehen, dass eine Erscheinung etwas, das erscheint, voraussetzt, sieht man etwa an solchen Phänomenen wie Nachbildern, die offenbar keinem Gegenstand angehören und daher als Illusion klassifiziert werden.

Freitag, 2. November 2007

Literatur zu Demokrit

1. Textausgaben:

Jürss, F., R. Müller, E.G. Schmidt (Hgg.): Griechische Atomisten. Texte und Kommentare zum materialistischen Denken der Antike, Leipzig 1977, Berlin 1984. [sehr vollständig deutsch zu Leukipp, Demokrit und Epikur]

Löbl, R. (Hrsg.), Demokrit. Texte zu seiner Philosophie, ausgew., übers., komm. und interpr., Amsterdam 1989.

Taylor, C. C. W., The Atomists: Leucippus and Democritus, Toronto 1999.

2. Sekundärliteratur:

Kahn, C., „Democritus and the Origins of Moral Psychology“, in: American Journal of Philology 106 (1985), S. 1–31. [Gut verständlich, aber weniger grundlegend als Vlastos. Untersucht, inwiefern Demokrits Ethik eine Folie bildet für Platons Dialoge und untersucht Gemeinsamkeiten der beiden Theorien.]

Taylor, C.C.W., “Pleasure, Knowledge and Sensation in Democritus”, in: Phronesis 12 (1967), S. 6-27. [Schwierig, aber interessant, weil Taylor sehr genau auf Vlastos eingeht und dessen Thesen anhand genauer Analyse der Fragmente überprüft. Seine Konklusion: es gibt eine enge Verbindung zwischen Demokrits Ethik und Atomtheorie, aber sie liegt darin, dass wir für beides Wissenschaft benötigen und nicht nur Wahrnehmung bzw. gesunden Menschenverstand, nicht wie Vlastos behauptet im euestó. Griechischer Text nicht übersetzt, aber meist paraphrasiert.]

Taylor, C.C.W., „The Atomists“, in: Long, A. A., (Hrsg.), 1999, The Cambridge Companion to Early Greek Philosophy, Cambridge 1999, S. 181-204. [Einführender Überblicksartikel über die frühe antike Atomtheorie.]

Vlastos, G., „Ethics and Physics in Democritus“, in: Philosophical Review 54 (1945), S. 578–592 und 55 (1946), S. 53–64. Abgedruckt in: R. E. Allen, David J. Furley (ed.), Studies in Presocratic Philosophy Vol. II, London 1975, S. 381-408. [Sehr gut verständlicher Überblick über Grundbegriffe demokritischer Ethik – Seele, Wohlbefinden (euestó), Lust, das Gute – und bringt diese in direkten Zusammenhang mit D. materialistischer Atomtheorie. Im letzten Abschnitt des ersten Teils Konstrastierung dieser Theorie mit dem Homo-Mensura-Satz des Protagoras. Pflichtlektüre, PDF 1, PDF 2]

Parmenides: Was die Menschen vom wahren Weg ablenkt

Zur Interpretation der Fragmente B6 und B7: Es gibt nur zwei Wege der Nachforschung, den, der zur Wahrheit führt, und den, der „völlig bar jeder Kunde“ ist. Die „doppelköpfigen“ Sterblichen aber können sich nicht entscheiden zwischen beiden Wegen. (Das ist eine in der Forschung nicht unumstrittene Position. Manche Interpreten meinen, der Weg der Sterblichen sei ein dritter, von den beiden anderen unterschiedener Weg.) Sobald die Sterblichen etwas Wahres gefunden haben, versuchen sie, etwas Nichtseiendes von ihm auszusagen und geraten so wieder auf den falschen Weg. Weil sie nicht gelernt haben, auf die Zeichen zu achten, die ihnen untrüglich den richtigen Weg anzeigen, irren sie orientierungslos herum. Anstatt sich an die Wegmarken zu halten verlassen sie sich auf die Wahrnehmung, auf das, was die Sprache nahelegt, und auf Gewohnheit. Diese drei vermeintlichen Erkenntnisquellen machen es den Menschen so außerordentlich schwer, dem richtigen Weg zu folgen, der sich nur durch Denken erschließt. Es ist eine radikale Abkehr von den durch den Anschein gestützten Meinungen notwendig, um erfolgreich Wissenschaft betreiben zu können. Die Diskrepanz zwischen der Art, wie wir etwas mittels der Wahrnehmung auffassen, und wie wir es denken müssen, wird auch durch das Fragment B4 ausgedrückt. Für das Urteil, ob etwas existiert oder ob etwas dieses Bestimmte ist, spielt es gar keine Rolle, ob es weit entfernt ist oder in unmittelbarer Nähe. Diesen Unterschied legt uns nur die Wahrnehmung nahe, da wir Dinge, die sich weit weg befinden, nur undeutlich oder gar nicht wahrnehmen können und deshalb versucht sind zu schließen, es gebe sie nicht. Betrachten wir etwas also nur unter dem Aspekt, dass es seiend ist, verschwinden alle Unterschiede und das Seiende hält sozusagen im Denken fest zusammen. Eine weitere Möglichkeit, die These vom Zusammenhalt des Seienden in Fragment B4 zu verstehen ist, alle wahren Sätze als Propositionen aufzufassen, die immer wahr bleiben, ungeachtet der Veränderung der Welt, die wir wahrnehmen. Der Satz, dass Anke Breunig am 25. Oktober 2007 eine Zusammenfassung der Seminarsitzung am 24. Oktober 2007 zur Vorlesung von Prof. Thomas Buchheim in der LMU München schreibt, wird auch am 26. Oktober, wenn sie etwas ganz anderes tut, noch wahr sein. Wie man an der umständlichen Formulierung merkt, müssen die Propositionen vollständig bestimmt sein, also keine kontextabhängigen Wörter enthalten wie ich oder heute, damit sich ihr Wahrheitswert nicht ändert. Zwischen diesen immerwahren Propositionen gibt es logische Beziehungen, durch die sie gewissenmaßen „zusammenhalten“ und ein einziges kohärentes System bilden. Auch wenn diese Deutung moderne Theorien über Propositionen in Anspruch nimmt, ist es durchaus möglich, dass Parmenides bereits in diese Richtung gedacht hat.

Parmenides: Ist Denken und Sein dasselbe?

Es gibt zwei verschiedene Lesarten des Fragments B3 „Το γαρ αυτο νοειν εστιν τε και ειναι“(to gar auto voein estin te kai einai): Die erste übersetzt die beiden Infinitive noein und einai als nominalisierte Infinitive. Die Übersetzung lautet dann „Dasselbe nämlich ist Denken und Sein.“ Denken und Sein werden hier also identifiziert. Eine Konsequenz dieser Lesart ist, dass Falsches gar nicht gedacht werden kann, da alles, was gedacht wird, auch existiert. Das ist jedoch nicht gut vereinbar mit Parmenides‘ Auffassung über die Meinungen der Sterblichen. Denn entweder wären diese nicht falsch oder sie wären, wenn falsch, gar nicht denkbar. Die zweite Möglichkeit den Satz zu verstehen ist, die Infinitive nicht zu nominalisieren. So übersetzt Thomas Buchheim „Dasselbe nämlich ist [geeignet] für denken und für sein.“ (Ebenso auch Curd (1998): „For the same thing is for thinking and for being.“, S. 28).

Samstag, 27. Oktober 2007

Literatur zu Protagoras

1. Textausgaben:

Nestle, W., Die Vorsokratiker, 4. Aufl., Düsseldorf 1956.

Schirren, Th., Zinsmaier, Th. (Hrsg.), Die Sophisten. Ausgewählte Texte (griechisch/deutsch), Stuttgart 2003. [Eine günstige Reclam-Ausgabe, die man sich ruhig anschaffen kann.]

Sprague, R. K., The Older Sophists. A Complete Translation, Columbia 1972.

2. Sekundärliteratur:

Bernsen, N. O., „Protagoras' Homo-Mensura-Thesis“, in: Classica et Mediaevalia 30 (1969=1974), S. 109-144.

Buchheim, Th., Die Sophistik als Avantgarde normalen Lebens, Hamburg 1986. [Nicht ganz leicht, aber sehr aufschlussreich. Kap. II: Der Homo-Mensura-Satz, S. 43-65 und 77-79, ist Pflichtlektüre. PDF1; PDF2]

Classen, C. J., „Protagoras' Aletheia“, in: P. Huby, G. Neal (Hrsg.), The Criterion of Truth. Festschrift G. B. Kerfeld, Liverpool 1989, S. 13-38.

Cole, A. T., „The Relativism of Protagoras“, in: Yale Classical Studies 22 (1972), S. 19-45.

Döring, K., Die Philosophie der Antike; Bd. 2,1, Sophistik, Sokrates, Sokratik, Mathematik, Medizin, hrsg. von H. Flashar, Basel 1998. [Etwas mühsam zu lesen, aber ein guter Überblick, auch über die (v.a. deutschsprachige) Sekundärliteratur. Zum Nachschlagen empfohlen.]

Fritz, K. von, „Protagoras“, in: Realenzyklopädie 23,1 (1957), 908-921.

Guthrie, W. K. C., The Sophists, Cambridge 1971.

Huss, B., „Der Homo-Mesura-Satz des Protagoras. Ein Forschungsbericht“, in: Gymnasium 103 (1996), S. 229-257.

Kerferd, G. B., The Sophistic Movement, Cambridge 1969.

Kullmann, W., „Zur Nachwirkung des homo-mensura-Satzes des Protagoras bei Demokrit und Epikur“, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 51 (1969), S. 128-144.

Taureck, B. H. F., Die Sophisten zur Einführung, Hamburg 1995. [Eine gut verständliche, grundlegende Einführung. Das Kapitel über den Homo-Mensura-Satz des Protagoras (S. 98-111) ist Pflichtlektüre. PDF]

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Parmenides: Die zwei Wege im Teil über die Wahrheit

Wenn Parmenides die zwei Wege der Nachforschung beschreibt, ist es wichtig im Auge zu behalten, dass er zwei Methoden vorstellt, denen eine Untersuchung folgen kann. Parmenides macht keine ontologischen Annahmen. Er sagt lediglich, dass nur der Weg der Wahrheit zur Erkenntnis führt, weil der andere Weg sein Ziel verleugnet, indem er nach nichts ( nach dem, was nicht ist / was etwas nicht ist) sucht und somit auch nichts finden kann. Parmenides etabliert also durch diese methodische Überlegung eine Asymmetrie zwischen Sein und Nichtsein, und dies gelingt ihm nur, weil er gerade nicht bei der Frage nach dem ontologischen Status des Nicht-Seienden ansetzt, sondern bei der nach der Wissbarkeit von etwas. Nach was eigentlich gesucht wird, d.h. was der Gegenstand der Untersuchung ist, ist nicht klar, denn den Beschreibungen der beiden Wege („dass ist und dass nicht-sein ausgeschlossen ist“ sowie „dass nicht ist und dass geboten ist nicht-sein“) fehlt das Subjekt. Dadurch sind die beiden Methoden auf alles anwendbar. Sie sind aber nicht kombinierbar, denn sie widersprechen sich. Zu diesem Widerspruch ist jedoch Folgendes anzumerken: „dass ist“ und „dass nicht ist“ sind kontradiktorische Aussagen, d.h. wenn die eine falsch ist, ist die andere wahr und umgekehrt. „Dass nicht-sein ausgeschlossen ist“ (Unmöglichkeit) und „dass geboten ist nicht-sein“ (Notwendigkeit) sind jedoch konträre Aussagen, d.h. sie können nicht beide wahr, aber sie können beide falsch sein. Parmenides war sich wohl nicht im Klaren über die verschiedenen Arten des Widerspruchs.

Die ersten Zeilen des Proömiums im Gedicht des Parmenides

In den ersten Zeilen des parmenideischen Gedichts wird eine rasante Wagenfahrt geschildert. Wir erfahren, dass der Insasse des Wagens ein Wissenschaft hegender Mann ist. Die Wagenfahrt kann als Metapher für den Gang einer wissenschaftlichen Untersuchung gedeutet werden. Diese Untersuchung führt den, der sich ihr verschrieben hat, mit Notwendigkeit dem einen Ziel, nämlich der Wahrheit, entgegen. Zu diesem Ziel gibt es nur einen einzigen, vorgezeichneten Weg, den der nach Wissen Suchende noch nicht kennt. Aber er findet viele Wegweiser, die ihm zeigen, dass er sich auf dem richtigen Weg befindet. Es wird im Proömium ganz deutlich, dass nicht er es ist, der darüber entscheidet, ob er den Weg weiter begehen möchte oder nicht. Er sitzt im Wagen und wird unvermeidlich und ohne Verzug zu seinem Ziel gebracht. Er ist ausgeliefert an den Wagen, die ihn ziehenden Stuten und die Mädchen, die den Weg weisen. Genauso ist der Wissenschaftler den Gesetzen der Untersuchung unterworfen, die durch den Gegenstand der Untersuchung festgelegt sind, nicht durch den Betrachter. Nur so kann der Gegenstand, wie er an sich ist, erkannt werden.

Montag, 15. Oktober 2007

Literatur zu Parmenides

Primärliteratur:

Hölscher, U., Parmenides. Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente griech. u. dt., Frankfurt 1986

Sekundärliteratur:

Curd, P., The legacy of Parmenides. Eleatic monism and later Presocratic thought, Princeton NJ 1998. [Sehr gut lesbar. Sieht keinen radikalen Bruch des P. mit den vorsokratischen Naturphilosophen, daher auch gegen die Standardinterpretation (v.a. gegen Owen), dass Parmenides einen numerischen Monismus vertritt, vielmehr einen prädikativen Monismus, d.h. die These, das jedes Ding, das ist, eine Einheit bildet. Doxa nicht ganz zu verwerfen, sondern, obwohl falsch, für uns der beste Weg, empirisches Wissen zu erlangen. Pflichtlektüre: Kap. I: Parmenides and the Inquiry into Nature, S. 24-63. (
PDF1, PDF2) ]

Fritz, K. von, „Die Rolle des ΝΟΥΣ“, in: Gadamer (Hrsg.), Um die Begriffswelt, Darmstadt 1968, S. 246-363. [Ausschnitt aus einer Begriffsgeschichte des Nous. Aufschlussreich zur Frage, ob sich der Nous mit Nichtsein, Falschheit und Täuschung in Verbindung bringen lässt. Der griech. Text ist nicht immer übersetzt.]

Kahn, Ch. H., „Being in Parmenides and Plato“, in: Parola del Passato 43 (1988), S. 237-261. [Argumentiert, dass esti prädikativ und veridisch und nicht existentiell zu verstehen ist (gegen Owen, mit Mourelatos). Behandelt im 3. Abschnitt Platons Parmenides-Rezeption, wobei er zeigt, dass Platons Seinsbegriff in der Ideenlehre viel mit dem des Parmenides ggemein hat und Platon nur das parmenideische Konzept vom Nichtsein verwirft. Etwas zu technisch, Platon-Behandlung interessant, aber sehr knapp.]

Mourelatos, A. P. D., The Route of Parmenides, New Haven u.a. 1970. [Die klassische Gegenposition zu Owen: Esti hat prädikative, nicht existentielle Bedeutung]

Owen, G. E. L., „Eleatic Questions“, in: Classical Quarterly 10 (1960), S. 84–102. Reprinted with additional notes in Furley and Allen, vol. II, S. 48–81; revised edn. in Owen, 1986. [P. als philosophischer Pionier, der mit den Kosmologen bricht. Doxa hat kein eigenes Recht. Owen vertritt die These, dass esti in existenzieller Bedeutung zu lesen ist. Etwas speziell und kompliziert, jedoch ein sehr einflussreicher Aufsatz, der eine lange Debatte auslöste.]

White, H., What is what-is? A Study of Parmenides Poem, New York 2005. [In der Art eines Kommentars geschrieben, der Ordnung des Textes folgend und ihn sorgfältig interpretierend.]